Die Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen e. V. gibt es seit 2019. Ihr großes Vorhaben war die Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen. Am Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit des B. Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen arbeiten Sie mit. Haben Sie Ihr Ziel erreicht?
Damals wurde die Selbstvertretung angesprochen, ob sie mitarbeiten möchte. Prinzipiell ist das ein Erfolg. Wir merken dass wir wahrgenommen werden, das ist wichtig. Bei den Vorbereitungsgesprächen des Aktionsplans waren viele verschiedene Menschen anwesend, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, eben auch Obdachlose und Wohnungslose. Unser großes Ziel haben wir damit aber nicht erreicht. Dazu müsste es von heute auf morgen keine Wohnungslosen und keine leerstehenden Wohnungen mehr geben.
Prinzipiell ist im Aktionsplan das Ziel verankert, Wohnungslosigkeit bis 2030 abzuschaffen…
Der Aktionsplan ist eine gute Sache. Aber ich sehe nicht, wie das in sechs Jahren passieren soll. Das Thema Wohnen hat nun einmal keine Priorität. Manche Leute merken inzwischen, dass es mit dem preiswerten Wohnen zu Ende geht. Auch wenn ich mich mit Menschen über meine politische Arbeit unterhalte erzählen fast alle von Erfahrungen mit Wohnungslosigkeit im eigenen Umfeld. Aber ich sage immer: Erst kommt der Fußball, dann das Boxen und dann noch andere Sachen, und erst dann fällt den Leuten das Thema Wohnen und Obdachlosigkeit ein. Deswegen finde ich es wichtig, dass sich Menschen selbst für ihre Rechte einsetzen.
Was ist der Unterschied zwischen Wohnungs- und Obdachlosigkeit?
Der Obdachlose lebt auf der Straße. Der Wohnungslose hat keinen festen Wohnsitz, aber noch die Möglichkeit, irgendwo zu übernachten. Bei der Selbstvertretung machen wir da keinen Unterschied. Es passiert schnell, von Wohnungslosigkeit in Obdachlosigkeit zu wechseln, dazwischen liegen oft nur einige Wochen. Und Wohnungs- und Obdachlose werden auf ähnliche Weise ausgegrenzt.
Zu diversen Ausgrenzungsmechanismen, die durch Wohnungslosigkeit entstehen, hat die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen Positionspapiere geschrieben. Darin geht es unter anderem um das Recht auf Wohnung, digitale Teilhabe oder den Schutz von Gesundheit.
Bei der Teilhabe geht es darum, dass man ohne Digitales inzwischen nicht einmal mehr einen Termin beim Jobcenter bekommt. Gesundheit ist für Wohnungslose wiederum ein ganz anderes Problem. Manche Menschen waren seit Jahren nicht bei einem Arzt – sie schämen sich und trauen sich nicht mehr einen aufzusuchen.
Würde eine „menschenwürdige Unterkunft“ einen Unterschied machen?
Eine Unterkunft macht viel mit Selbstwert, mit dem Sicherheitsgefühl und ändert auch für bürokratische Vorgänge einiges. Ich habe mich zum Beispiel an unserem Papier „Mehrbedarf“ beteiligt. Dabei ging es darum, dass das Leben teuer ist, wenn man auf der Straße lebt. Bis Hartz IV eingeführt wurde, gab es in Deutschland in den großen Städten eine besondere Sozialhilfe, an die sich kranke Menschen, jene mit wenig Geld oder Rentner wenden konnten. Sie haben dann 20 Prozent Mehrbedarf bekommen. Eine Idee wäre gewesen, das wieder aufleben zu lassen. Aber ich denke, da renne ich bei den Politikern unseres Landes gegen verschlossene Türen.
Das hat sich Ihrer Wahrnehmung nach auch mit der Einführung des Bürgergeldes nicht geändert?
Nein. Die Sozialhilfe unterscheidet zwischen Lebensunterhalt und Kosten der Unterkunft. Wenn Menschen keinen festen Wohnsitz haben, bekommen sie keine Unterkunftskosten bezahlt. Sie haben aber Mehrkosten als Menschen mit Unterkunft. Ein Mensch muss ungefähr sechs- oder siebenmal am Tag zur Toilette. Dafür musst du als wohnungslose Person bezahlen. Im Kaufhaus 50 Cent, bei der öffentlichen Toilette einen Euro. Das gleiche gilt fürs Duschen oder Wäsche waschen. Eine wohnungslose Person muss zweimal die Woche in den Waschsalon, das kostet auch 16 Euro. Wenn wir in den Wohnungen merken, dass das Leben teurer wird, wird es auf der Straße bedeutend teurer. Deswegen fordern wir einen pauschalen Zuschlag von 70 Prozent als Unterkunftsbetrag für Menschen ohne festen Wohnsitz.
Welche anderen Schwerpunkte wird die Selbstvertretung künftig setzen?
Wohnen und Gerechtigkeit bleiben unsere Themen, die Schwerpunkte können sich jederzeit ändern. Aktuell sind wir um die 80 Personen aus ganz Deutschland. Bei uns ist niemand der Chef, jede neue Person bringt neue Themen ein. In neuen Städten werden selten Einzelpersonen Teil der Selbstvertretung, meistens schließen sich in jeder Stadt schnell Gruppen zusammen. Ich glaube, alleine hat diese Arbeit keinen Sinn.
(Interview von Ilse Kramer am 28. August 2024 mit der Zeitung Neues Deutschland)