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Vernetzte Selbstvertretung – Sozialministerin Behrens zu Gast in Freistatt

Die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e. V. hat Ende 2022 ein Positionspapier erarbeitet (PDF-Datei) in Bezug auf das „Recht auf Wohnung“. Dieses Dokument stellt die Kritik der Selbstvertretung an den Zuständen der „ordnungsrechtlichen Unterbringung“ bei der Versorgung obdach- und wohnungsloser Menschen im Notfall dar, die oft lediglich eine Unterbringung in Massenunterkünften mit Mindeststandards praktisch ohne jede Privatsphäre vorsieht.

Die Bitte an die Niedersächsische Sozialministerin Daniela Behrens (SPD) um ihre Stellungnahme zum Positionspapier führte jetzt zu einem fast zweistündigem Treffen der Ministerin mit einer Abordnung der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e. V.

Im Rahmen des gerade stattfindenden ersten Koordinierungstreffens 2023 zur Vorbereitung des nächsten Wohnungslosentreffens 2023 — das dieses Jahr erneut im oberbayrischen Herzogsägmühle stattfinden wird — entstand eine intensive Diskussionsrunde mit Sozialministerin Behrens, in deren Verlauf auch eine Verabredung für weitere etwa halbjährliche Treffen der Ministerin mit der Selbstvertretung geschlossen wurde.

Diese Treffen sollen genutzt werden, um gemeinsam die Belange und Wünsche obdach- und wohnungsloser Menschen an Bundesland, Kreise und Kommunen zu erörtern, um die belastende Situation dieser Menschen zu verbessern. Wenn wir die ambitionierte Zielvorgabe der EU — bis 2030 die Wohnungslosigkeit in allen Ländern der EU abzuschaffen — einmal als Messlatte nehmen wollen, muss sich im Bereich der Wohnungslosenhilfe in den nächsten zehn Jahren noch einiges tun.

Die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e. V. als gemeinnützige Organisation zur Selbstorganisation armer, obdach- oder wohnungsloser Menschen ist bereit, ihre Erfahrungen und Kräfte in diesen Prozess einzubringen.

Wir begrüßen deshalb ausdrücklich das Angebot von Ministerin Behrens, gemeinsam nach praktikablen Lösungen zu suchen, die die aufgezeigten Probleme des Positionspapiers aber auch andere soziale Probleme — mit denen arme und sozial benachteiligte Menschen immer wieder zu kämpfen haben — zu beseitigen.

Sozialministerin Daniela Behrens zu Besuch bei der Selbstvertretung - 11. Januar 2023 - (c) Freistätter Online Zeitung 2023
Sozialministerin Daniela Behrens zu Besuch bei der Selbstvertretung – 11. Januar 2023 – (c) Freistätter Online Zeitung 2023

Auswahl angesprochener Themen
bei der Diskussionsrunde mit Ministerin Behrens

Nach der Begrüßung von Sozialministerin Daniela Behrens durch Frank Kruse (Bereichsleiter der Wohnungslosenhilfe Freistatt), Corinna Lenhart aus dem Vorstand der Selbstvertretung und Claus Freye (als einem der Geschäftsführer von Bethel im Norden) wurde noch einmal das Positionspapier durchgegangen.

Unter den etwa 15 Mitgliedern der Selbstvertretung nahmen auch die Uwe Eger und Lutz Schmidt als weitere Vorstände des Vereins an der Diskussionsrunde teil.

  • Sozialministerin Behrens war sich mit den Teilnehmenden einig, dass Deutschland im internationalen Vergleich ein sehr reiches Land darstellt. Es sei aber immer noch eine wachsende Tendenz zu beobachten, dass die „Schere zwischen Arm und Reich“ weiter auseinander gehe.
  • Das würden auch die teilweise enormen Zusatzgewinne einiger Unternehmen im Verlauf der Corona-Kriese zeigen — während sich Menschen mit geringerem Einkommen mit immer größeren finanziellen Problemen bedingt durch die aktuelle Inflationsrate und explodierende Heiz- und Energiekosten konfrontiert sehen.
  • Bei akuten Wohnungsnotfällen garantieren Ordnungsgesetze zwar prinzipiell eine Unterkunft. Massenunterkünfte ohne Privatsphäre könnten aber nur eine sehr kurzfristige Hilfe bieten, ein dauerhafter Aufenthalt dort mache langfristig körperlich und psychisch krank.
  • Die Wohnungssuche armer Menschen wird für sie immer frustrierender zwischen Geldmangel, Schulden und negativen SCHUFA-Einträgen. Die Konkurrenz solventerer Mieter wird für sie immer erdrückender.
  • Erfahrungen von Ausgrenzung, Abgehängt sein und Stigmatisierung verbreiten Hoffnungslosigkeit
  • Rechte haben, kennen und dann auch durchsetzen können wird im Umgang mit Behörden von Armen Menschen mit mangelhaftem Zugang zu Rechtberatung oft als Mangel empfunden.

Ministerin Behrens erwähnte die Kunstausstellung 2022 des Modellprojektes der Wohnungslosenhilfe Hannover im Ministerium als interessante Erfahrung, wie kreativ sich auch benachteiligte Menschen ausdrücken könnten.

Außerdem gab sie bekannt, dass in der laufenden Niedersächsischen Legislaturperiode keine Kürzungen im Bereich der Sozialpolitik vorgesehen seien.

Zum Thema Angemessenheit von Unterkünften fragte Frau Behrens, was an Unterstützung wünschenswert sei in den Kommunen? — Das zeige ja aber auch das Positionspapier der SwM.
Sie wies aber auch darauf hin, dass ihr Ministerium darauf keinen direkten Einfluss nehmen könnte, es gehe bei ihr mehr um die Gestaltung von Rahmenrichtlinien, die dann idealerweise erst in den Kommunen umgesetzt werden müssten.

Weitere Diskussionsbeiträge

  • Selbstwertgefühl und Erlebnisse von „untergebrachten“ Menschen — ein Gefühl von „schutzlos sein“, den zufälligen Mitbewohnenden ausgeliefert sein, fast permanent eine mehr oder weniger zermürbende Unruhe im „Heim“ bei Tag und in der Nacht zu erleben, keine Privatsphäre zu haben und jederzeit mit Störungen rechnen zu müssen.
  • Mangelhafte Sauberkeit sei oft zu beobachten, die Versorgung bei Krankheit sei immer ein Problem, „Das Lewben auf der Straße macht krank!“
  • Schon ein Sechsbett-Zimmer mit Etagenbetten beschere praktisch immer einen Ort, an dem ein Mensch sich nicht wohl fühlen kann. Je länger der Aufenthalt, desto kränker werde der Mensch.
  • Konkurrenz und gegenseitiges Ausspielen „sozialer Randgruppen“ werde immer wieder zum Problem, verschärft durch wachsende Armut und Inflation.

Sozialministerin Behrens berichtete auch von nicht immer guter Zusammenarbeit der Sozialministerien der Bundesländer, oft durch Parteigrenzen noch erschwert. Ein Lichtblick sei dann zumindest die Investition von Glücksspiel-Erträgen in soziale Projekte der Länder, über die meist auch Landkreis oder Gemeinde zu entscheiden hätten.

Der Wohnungsmarkt sei ihr auch mit all seinen Problemen bewusst, die kürzlich gegründete Landeswohnungsbaugesellschaft sei immerhin ein erster Schritt für wieder mehr Sozialwohnungen. Sie sehe da besonderen Vorrang bei der Vergabe von Wohnungen für Obdachlose und Frauen mit Gewalterfahrungen.

Leider sähen dieses Thema manch andere Bundesländer weniger dramatisch, ähnlich wie bei der Beurteilung des SCHUFA-Problems für viele arme Menschen.

Die Kontrolle von Pflegeheimen und die Festlegung von Mindeststandards sehe sie als Aufgabe ihres Ministeriums, ihre Empfehlungen dazu müssten dann aber wieder die Kreise und Kommunen umsetzen.

Leerstand von Häusern und Enteignung?

Das sei ein komplexes Thema in Deutschland mit hohen grundrechtlichen Hürden. Ihre langjährigen Erfahrungen in der Politik hätten gezeigt, das gemeinsame Absprachen oft eine bessere Strategie sein. Zusammen nach Lösungen suchen also.

Frank Kruse beklagte dazu eine stark gewinnorientierte Wohnungsgesellschaft in Diepholz, die mehr als 50 Mehrfamilienhäuser dort lieber bis zum Leerstand verwalte, um sie zuletzt topsaniert möglichst teuer weiter zu verkaufen. Ministerin Behrens bestätigte diese Problematik und ergänzte die Variante von Abschreibungs- und Steuerspar-Modellen mit Wohnungsobjekten, die bezahlbaren Wohnraum weiter verringern würden.

Frank Kruse: „Wir brauchen mehr Wohnungen für Klienten!“ — wobei Angebote in „sozialen Brennpunkten“ auch oft problematisch seien. „Normale Wohnungen“ zu finden sei für Klienten der WLH eine echte Geduldsprobe mit langen Wartezeiten, die oft zu deprimierende Situationen führen würden.

Abweisung obdachloser Menschen geschehe dann oft auch mit dem Argument einer anders gewünschten Mietermischung.

Sozialministerin Behrens fragte dann noch nach Statistiken über obdachlose Menschen? — und sie bekam Bestätigung, dass dazu nicht wirklich aktuelle Daten vorhanden seien.

Menschen, die sich nicht zählen lassen wollen ließen eine hohe Dunkelziffer vermuten. Nur Zahlen zu §67-Obdächern und aus der WLH seien einigermaßen zuverlässig. „Unsichtbare wohnungslose Menschen“ bleiben problematisch: Immer wieder zeitweise bei Freunden unterkommend oder als Frau in zweifelhaften Beziehungen einziehend käme dabei oft in Frage.

Ministerin Behrens machte dazu auch wieder die Wichtigkeit der Mitarbeit von Kommunen deutlich, die bessere Erfassungen durchsetzen müssten.

Eine Frage nach der Entstehung von Massenunterkünften — die in der Runde nicht abschließend zu klären war — führte noch einmal zu einer Beschreibung der …

Problemlage rund um Massenunterkünfte

  • Als Nacht-Obdach organisiert werden die untergebrachten Menschen tagsüber vor die Tür gesetzt!
  • Einzelzimmer mit Privatsphäre seien aber für jeden Bewohnenden nötig!
  • Sie müssten 24/7 bewohnbar sein als Rückzugsmöglichkeit.
  • Digitale Zugänge sollten für alle Bewohnende angeboten werden.
  • Lage & Erreichbarkeit muss stimmen.
  • Die Umsiedlungs-Willkür muss gestoppt werden.

Und auch zu dieser kleinen Fragensammlung:

Wohnungsverlust als „sozialer Makel“?

Das sei auch oft ein Problem bei der Wohnungssuche.

Wie könnten mehr angemessene Unterkünfte entstehen?

Wie sollte dort eine optimale Betreuung durch Sozialarbeitende aussehen?

Wie könne bei einer Betreuung das Selbstbestimmungsrecht erhalten bleiebn?

Wie könnte die Prävention gegen Wohnungsverlust wirksam ausgebaut werden?

Was könnte ein Leerstandskataster potentieller Wohnungen bewirken?

Wie könnte die Beratung über persönliche Rechte und Unterstützungs-Möglichkeiten verbessert werden?

Funktionen einer Wohnung

Zum Abschluss wurde noch dieser vierte Punkt zum Positionspapier nachgereicht: Welche selbstverständlichen Vorteile einer eigenen Wohnung muss ein Mensch, der auf der Straße lebt, sich gegen Bezahlung extra erkaufen?

Lagerung von Sachen und Lebensmittelvorräten, Wäsche waschen, Toilettengänge, Körperhygiene … das könnten für einen Monat bis zu 320,- Euro Mehrbedarf ausmachen.

Bei Ansprache des Themas „Soziale Teilhabe“ verwies Frau Behrens auf das Bürgergeld. Aber das sei sicher auch noch ein ganz anderer Themenbereich, eine andere Baustelle. Das war besonders mit dem Stichwort „Regelsatz“ und dessen Festlegung für die gesamte Runde nachvollziehbar.

Gegen 17:00 Uhr endete dieser interessante Austausch. Als Angebot von Sozialministerin Behrens kam eine Einladung ins Ministerium für die nächste Diskussionsrunde, sie zeigte aber auch Bereitschaft, erneut einen solchen Austausch in Freistatt vor Ort zu wiederholen.
(… dann vielleicht in Verbindung mit einer Feldbahn-Fahrt?)

Die Selbstvertretung mit Frank Kruse und Claus Freye bedankten sich bei Frau Behrens für den interessanten Besuch, der noch mit einem Gruppenfoto dokumentiert wurde.

Ich bedanke mich! — wir sollten einen Dialog beginnen und in Kontakt bleiben.

Diese Abschiedsworte der Ministerin waren zuletzt noch eine schöne Anerkennung für die Arbeit der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e. V. der letzten Jahre.

Aus Erfahrung können aber auch alle Mitglieder der SwM noch einen weiten Weg ausmachen — vor allem im Hinblick auf die Abschaffung von EU-Wohnungslosigkeit bis zum Jahresende 2030?!

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Sozialministerin Daniela Behrens zu Besuch bei der Selbstvertretung in Freistatt

Text: Jens Roggemann
Fotos: Frank Kruse und Hari Januschke für die Freistätter Online Zeitung

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